Während der Ferienzeit publizieren wir Texte, die besonders zu reden gaben. Dieser Beitrag erschien erstmals am 4. März 2019.
Eine Freundin und ich unterhalten uns über die Skischule, wohin sie ihre vierjährige Tochter in den Ferien begleitet hat. «Andere Mütter gaben ihre weinenden Kinder ab und verschwanden», berichtet sie, sie scheint konsterniert. Ich entgegne: «Je nach Situation ist es vielleicht besser, den Abschied nicht unnötig in die Länge zu ziehen.» Sie schüttelt den Kopf. «Nur um selber möglichst bald auf der Piste zu stehen?» «Wie lange haben die Kinder denn geweint?», frage ich, unsicher darüber, was ich problematischer finde: Eltern, die sich kaum von ihren Sprösslingen trennen können, oder jene, die dann einfach mal weg sind. «Unterschiedlich. Aber selbst wenn das Kind zu weinen aufhört, sobald die Mutter oder der Vater verschwunden ist, hat es ja gar keine andere Option, als der Skilehrerin oder dem Skilehrer zu folgen. Sein Wille wird gebrochen», hält sie fest.
Ich bin verunsichert. Beim Anziehen der Strumpfhose, die das Kind trotz Minustemperaturen partout nicht tragen will, bei der Durchsetzung von Nuggi- oder später Fernsehzeiten oder dem Einfordern gewisser Verhaltensregeln, die einem wichtig sind – als Eltern begegnen wir doch immer wieder Situationen, in denen wir uns über den Willen des Kindes hinwegsetzen müssen und wollen. Aber ist das so verwerflich? Und ist der Ausdruck «den Willen brechen» in diesem Zusammenhang nicht etwas übertrieben?
Mein eigenes Trauma
Die Frankfurter Primarschule, die unsere Söhne besuchen sollten, organisierte einen Besuchstag für alle zukünftigen Erstklässler. Unsere Kinder, die keinen der umliegenden Kindergärten besucht hatten, kannten niemanden und waren entsprechend nervös. Wie ich das vom Kindergarten her gewohnt war, versprach ich, am Anfang dabei zu sein und mich dann zurückzuziehen. Doch es kam anders. An der Eingangstür stand eine Lehrerin mit einer Liste, wo sich jedes Kind anmelden und dann an der Hand eines anderen einreihen musste, um das Schulhaus gemeinsam zu betreten. Einer unserer Söhne weinte, klammerte sich an mir fest. Ich schlug vor, ihn zu begleiten. Doch die Lehrerin kannte kein Erbarmen. Sie packte ihn vehement an der Hand und zog ihn mit den anderen Kindern ins Schulhaus.
Ich blieb konsterniert und mit einem schlechten Gewissen zurück: Dass ich meinem Sohn nichtsahnend versprochen hatte, am Anfang dabei zu sein, war ein Fehler gewesen, denn jetzt – so empfand ich es in jenem Moment – hatte ich ihn trotz meines Versprechens im Stich gelassen. Es waren zwei sehr lange Stunden, bis ich die beiden abholen konnte. Endlich kamen sie fröhlich aus dem Schulhaus gerannt, schnappten sich einen Ball, um auf dem Pausenplatz mit ihren neuen Freunden zu tschutten.
Eine Frage der Perspektive
Die Lehrerin kam auf mich zu, begründete ihr Vorgehen. Sie habe gemerkt, dass dieser Abschied schnell gehen müsse, sonst hätte das zu einem Drama geführt, und dass mein Sohn, kaum habe er das Schulhaus betreten, zu weinen aufgehört und sich sofort integriert habe. Tatsächlich war das für mich eine Art «traumatisches» Erlebnis – aber, und das ist der Punkt: Nur für mich, nicht für unseren Sohn. Der fand das im Nachhinein nämlich überhaupt nicht schlimm und sehnte von diesem Zeitpunkt an den Schulbeginn herbei. Er wurde sogar in die Klasse jener Lehrerin eingeteilt, und selbst dies erwies sich im Nachhinein als Glücksfall.
Von dieser Situation auf alle weiteren zu schliessen, wäre natürlich falsch. Aber manchmal ist es eben doch anders, als es auf den ersten Blick scheint oder wir es zu wissen glauben – für Kinder genauso wie für uns Erwachsene.
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