«Hat das Kind etwas am Bein?», fragt die Dame vor der Apotheke genau in dem Moment, als das Kind an meiner Hand stolpert, einen Vorwärtssalto macht, auf dem Rücken landet und mörderisch schreit. Das Geschrei verunmöglicht zum Glück ein Gespräch, und ich konzentriere mich lieber darauf, meine Tochter zu trösten.
Ich bin sowieso unschlüssig, was ich antworten soll. Eigentlich meint es die Dame nur gut, aber man wird hypersensibel mit einem Kind mit Einschränkungen. Es kommt, wie befürchtet, die fremde Dame will wissen, ob das Kind eine Behinderung hat. Hat es die? Nein, diesen Ausdruck gebrauche ich für meine Tochter nicht. «Labels are for jars», wie es im Englischen heisst: Etiketten gehören auf Einmachgläser, nicht auf Menschen.
All die düsteren Prognosen
Aber ich will nicht zickig sein. Ich gebe zu, dass ich es bis anhin auch nicht besser wusste. Muss ich wirklich «mit speziellen Bedürfnissen», «Einschränkung» oder «Beeinträchtigung» sagen? Ich muss nicht, aber nun, da ich indirekt betroffen bin, ist mir die präzise Wortwahl enorm wichtig.
Ebenso wichtig wie die Wortwahl war es mir von Geburt meiner Tochter an, den Blick nicht auf ihre Defizite, sondern auf ihre Ressourcen zu lenken. Ich war immer davon überzeugt, dass sie sich nur mit einer leichten Einschränkung würde abfinden müssen, doch beweisen konnte ich es nicht. Alle paar Monate zeigten mir Fachpersonen, wie stark sie der normalen Entwicklung hinterherhinkte. Äusserte ich meinen Optimismus angesichts ihrer stetigen Fortschritte, erhielt ich mitleidige Blicke und düstere Prognosen: Wollte sie wie so manch anderes Kind nicht mit nackten Füssen im Gras stehen, wurden ihr Sensibilitätsstörungen unterstellt. Ging sie offen auf Fremde zu, stand sofort die Frage nach einem Nähe-Distanz-Problem im Raum.
Bemerkungen wie «Vielleicht wird sie nie laufen oder sprechen» oder «Heute gibt es gute integrative Schulmodelle» machten mich immer wieder von neuem sprachlos. Meine Tochter war damals erst ein paar Monate alt; konnte ich nicht einfach meine Hoffnung behalten? Wenn es denn so wäre, wie prophezeit, würde ich mich zum gegebenen Zeitpunkt damit abfinden, aber sicher nicht früher als nötig.
Tränen des Stolzes
Ich sollte recht behalten mit meinem unerschütterlichen Optimismus. Die leichte motorische Einschränkung meiner Tochter hält sie heute nicht von Freizeitaktivitäten ab, die alle Kinder ihres Alters ausüben: Rennen, Klettern, Fahrradfahren, Schlittschuhlaufen und vieles mehr. Einfach ist dies nicht für sie, denn sie braucht viel Übung und Geduld, bis sie etwas kann. Daran hindern lässt sie sich trotzdem nicht. Im Frühling beharrte sie darauf, den Bären Grand Prix von Bern zu rennen, weil ihre Freundin daran teilnahm. Trotz allem Optimismus sah ich dem Unterfangen skeptisch entgegen. Würde sie es schaffen? Was, wenn sie – wie so oft – stolperte und hinfiel?
«Wir rennen langsam, und ich halte dich an der Hand», sagte ich. Dann fiel der Startschuss, sie riss sich von mir los und rannte davon. Nur mit Mühe konnte ich ihrem Tempo standhalten und keuchte hinter ihr her. Im Ziel blinkte meine Running-App auf: «Glückwunsch! Ihre neue Bestzeit für eine Meile!» Mit einem breiten Grinsen im Gesicht stand das Kind vor mir, dem man vor kurzem nicht einmal das Laufen zugetraut hatte. Voller Stolz und Dankbarkeit verdrückte ich ein paar Tränen.
Warum ich diese Geschichte teile? Weil am Samstag Welttag der Infantilen Cerebralparese ist, und weil ich hoffe, dass irgendwo, in diesem Augenblick, ein Mensch dies liest, sein spezielles Baby dabei anlächelt und allen düsteren Prognosen zum Trotz an der Hoffnung festhält. Es lohnt sich.
Schweizerische Stiftung für das Cerebral gelähmte Kind, Konto 80-48-4
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